You are currently viewing Wie die EU Menschen auf der Flucht im Regen stehen lässt

Wie die EU Menschen auf der Flucht im Regen stehen lässt

Triggerwarnung: Dieser Text enthält Verweise auf Grenzgewalt und thematisiert das Thema den Tod von Flüchtenden

Regentag

Eine dicke Wolkendecke liegt schwer über den Hügeln durch die wir wandern. Wir sind zu Fuß unterwegs, weil die Gefahr von Repression mit dem Auto in diesem Gebiet ziemlich hoch ist, aber wir trotzdem eine Anbindung der Menschen zu den lokalen Supportstrukturen sicherstellen wollen. Nachdem wir eine gute Dreiviertelstunde gelaufen sind, beginnt der Regen. Es regnet, und regnet, und hört einfach nicht auf. Wir laufen unsere Route wie geplant, besuchen Squats[1] in denen aber im Moment niemand wohnt. Arabische oder persische Graffitis zieren die Wände, die Menschen mit Kohle dort hingezeichnet haben. Ich würde gerne wissen was die Menschen dort verewigt haben, und wo sie wohl jetzt sind. In Kroatien, Slowenien, oder weiter in der Europäischen Union (EU)? Zurück nach Serbien und dann die Route über Rumänien? Oder stecken sie immer noch in Bosnien fest?

Nach unserer Mittagspause kommen wir an einem Squat an, in dem bisher immer Leute waren. Dort gibt es Strom. Eine Elektroheizung wärmt das Zimmer. Eine Familie die ich dort bisher jede Woche angetroffen habe, hat es nach Kroatien geschafft. Das gibt den Dagebliebenen Hoffnung. Bei dem Regen will heute aber sowieso keine*r aufs Game[2] gehen. Eine Medizinerin aus unserem Team behandelt die Menschen, die wir in dem Häuschen antreffen. Wir haben Kleinkram dabei, den die Leute potentiell gut gebrauchen können. Wärmflaschen, Batterien, Taschenlampen, Hygieneartikel, Müllbeutel… Sie bekommen außerdem Zugang zum sogenannten Voucher-System, durch das sie sich in der nächstgelegenen Stadt im Supermarkt für einen bestimmten Betrag Essen aussuchen können.

Besuch einer neuangekommenen Familie

Als wir unsere matschigen Wanderschuhe wieder anziehen und die Stufen des Squats hinabsteigen ist es bereits dunkel. Eine neue Familie ist angekommen, zu der andere People on the Move (PoM) uns führen. Ich kenne sie bereits aus Kladuša. Sie mussten sich einen neuen Ort suchen, da der Heli, ein großes inoffizielles Zeltlager, auf dem sie davor gelebt haben, eine Woche zuvor von der Polizei in Kooperation mit der International Organization for Migration (IOM) geräumt wurde. Was übrig geblieben ist wurde verbrannt. In der Erwartung einer weiteren Räumung hatten sich die meisten Leute vom Heli sowieso bereits nach Alternativen umgesehen. Auch wegen des Wetters. Denn jetzt, wo die Temperaturen nachts unter null fallen ist es viel schwieriger sich im Zelt durchzuschlagen und der Heli wird ein Schlammfeld sobald es regnet. Gut also, dass sie hier sind, auch wenn es an diesem Ort keine gute Infrastruktur gibt. Circa zwei Stunden dauert es in die nächste Stadt zu laufen um dort einzukaufen… Aber dafür liegt es sehr nah an der Grenze. Ein guter Ort um das Game zu versuchen.

Es ist die Grenze in die EU, in der sie auf eine sichere Zukunft hoffen, und die es doch immer schwieriger für die Menschen macht, ihr Recht auf einen Asylantrag in Anspruch zu nehmen. Der Preis, den die PoM für jedes gescheiterte Game zahlen ist hoch.Doch die Abschreckungspolitik der EU funktioniert nicht.

In dem kleinen Raum liegt ein Teppich, zwei Kerzen spenden Licht. Ein durchgesessenes Sofa steht in der Ecke und wir werden gebeten darauf Platz zu nehmen. Der Rest der Familie sitzt auf dem Boden. Eine Frau hat einen gebrochenen Arm, unsere Medizinerin sagt, es muss geröntgt werden, aber ein offizielles Camp in dem das möglich ist, liegt weit entfernt. Ein Mensch hat Halsschmerzen, was allerdings nicht sonderlich verwunderlich ist, da im Flur Feuer gemacht wurde und der Rauch in dicken Schwaden im Zimmer hängt. Ich ärgere mich, dass es hier deutlich komplizierter ist Öfen einzubauen, weil es nicht leicht ist, sie mit dem Auto herzubringen. Diese Familie könnte einen Ofen gut gebrauchen. Wir verabschieden uns und draußen empfängt uns strömender Regen.

Rückweg

Der Rückweg kommt mir lang vor. Unendlich lang. Langsam kriecht die Nässe durch alle Kleidungsschichten, bis sogar mein T-Shirt nass ist. Unsere Schuhe halten die Nässe schon längst nicht mehr ab. Der Untergrund ist schlammig und rutschig. Wir müssen Acht geben nicht hinzufallen. An einer Stelle die wir sonst problemlos überqueren hat sich ein kleiner, circa einen Meter breiter Fluss gebildet. Überall fließen kleine und große Bäche die Hügel hinab. Ich denke an Hanif (Name geändert), einer PoM der mir erzählt hat, dass er krank geworden ist, weil er auf seinem letzten Game lange durch den Regen laufen musste. Ich denke daran, dass die PoM Flüsse durchqueren und dann mit nassen Schuhe weiterlaufen müssen. Ich denke daran, dass ich gleich zuhause warm duschen werde und mir trockene Sachen anziehen werde. Dabei stelle ich fest, dass zumindest die Dusche den meisten PoM in Squats vorenthalten bleibt. Was für eine Welt.

Unterstützung einer zurückgedrängten Gruppe

Wir sind fast an unserem Auto angekommen, als wir Rufe hören. Meine abstrakten Überlegungen von PoM auf dem Game im Regen werden plötzlich sehr real. Eine Gruppe von 8 oder 9 Leuten erreicht uns, fragt nach Wasser. Sie sagen sie seien gerade aus Kroatien gepushbacked[3] worden und wollen nach Kladuša laufen. Jetzt. In diesem Wetter. Ein Mensch hat einen Blutfleck auf der Nase, unsere Medizinerin leistet Erste Hilfe. Die Gruppe wurde von der Polizei übel zugerichtet. Die Nase des Menschen wurde gebrochen. Ein anderer Mensch sagt, sein Arm sei gebrochen. Aber dass er erst morgen Hilfe möchte, wenn sie in Kladuša angekommen sind. Sie berichten, dass die Polizei ihre Handys komplett zerstört hat. Zum Glück scheinen die anderen mit denen ich unterwegs bin zu wissen, was zu tun ist, ich bin überfordert von der Situation. Wir verteilen die Rettungsdecken, die wir in unseren Rucksäcken finden können. Ein Mensch aus meiner Gruppe teilt sein Wasser mit den PoM. Ich möchte ihnen auch meine Wasserflasche geben aber meine Hände sind so klamm das ich den Verschluss meines Rucksacks nicht öffnen kann. Ein PoM hilft mir und die Flasche wird herumgereicht. Wir erfahren wo die Gruppe in Kladuša wohnt und tauschen den Kontakt aus, damit wir uns gegenseitig erreichen können und wir weitere Unterstützungsarbeit leisten können wenn die Leute angekommen sind. In unserem Auto können wir sie nicht mitnehmen, da durch ein Transportverbot extreme Strafen drohen.

Es darf nicht sein, dass Menschen sich in Lebensgefahr begeben müssen um nach Europa zu kommen. Wir brauchen offene Grenzen, und zwar sofort.

Unterwegs kaufen wir noch Wasser, Essen und Zigaretten an der Tankstelle und haben noch einige Rettungsdecken mehr in unserem Auto ausfindig machen können.Die Gruppe ist sehr flott unterwegs. In diesem Tempo werden sie in vielleicht drei Stunden in Kladuša sein. Wir reichen ihnen die Verpflegung durchs Autofenster. Die Rettungsdecken reflektieren das Scheinwerferlicht des Autos, immerhin sind sie so gut sichtbar auf der unbeleuchteten Landstraße.

Unausweichliche Ungleichheit

Ich friere richtig doll und bin unglaublich erschöpft. Ich bin sehr froh, dass ich jetzt im warmen Auto sitze. Und mir steht die Ungleichheit mal wieder sehr klar vor Augen. Wer ist im Auto und wer zu Fuß unterwegs? Wer kann mit dem Auto über die Grenze fahren und wer muss durch den Wald laufen und wird dann gewaltsam zurückgeschickt? Und was habe ich eigentlich mit dieser Grenze zu tun? So sehr ich mich auch von dieser Grenze distanzieren möchte, ich als Europäerin profitiere ökonomisch davon, wie reglementiert wird. Also, dass die EU ihre wirtschaftliche Stellung stärken muss und daher Regeln macht, welche Waren und welche Menschen durchgelassen werden und welche nicht. Hier an dieser Grenze offenbart sich die im Kapitalismus unvermeidbare Logik der Konkurrenz und des Wachstumszwangs. Und auch der durch die Globalisierung verursachte Externalisierungsdruck, also die Arbeit ins Ausland auszulagern weil dort billiger produziert werden kann. Weil die EU-Länder mit anderen Ländern konkurrieren müssen, wird sich daran auch so schnell nichts ändern. Und ich? Ich bin in diesem Umstand verheddert, weil der Wohlstand der in der Gesellschaft herrscht in der ich aufgewachsen bin historisch auf der Ausbeutung der von Europa besetzten Gebiete (Kolonien) entstanden ist und auch heute unser Wohlstand weiterhin auf Kosten anderer entsteht. Und ist es nicht gerade auch dieser Umstand der Deutschland wirtschaftlich gut dastehen lässt, der in anderen Ländern die Fluchtursachen befeuert?  Egal ob es um ökonomische Gründe, die Klimakrise oder Kriege geht. Die Konsequenz die gezogen wird ist absurd, denn anstatt anzuerkennen das die EU Mit-Verursacherin ist und Verantwortung übernimmt wird politisch auf Verteidigung und Abschottung der Grenzen gesetzt.

Grenzübertritte kosten Leben

Aber zurück zu den PoM und ihrer konkreten Lebensrealität: Trotz aller gescheiterter Versuche des Grenzübertrittes, der von der EU finanzierten und unterstützten Gewalt und psychischer und mentaler Herausforderungen dieser prekären Lage, die Menschen die ich hier treffe versuchen die Grenze zu überqueren. Es ist die Grenze in die EU, in der sie auf eine sichere Zukunft hoffen, und die es doch immer schwieriger für die Menschen macht, ihr Recht auf einen Asylantrag in Anspruch zu nehmen. Der Preis, den die PoM für jedes gescheiterte Game zahlen ist hoch. Doch die Abschreckungspolitik der EU funktioniert nicht. Die PoM versuchen es wieder und wieder und wieder. Manchmal jahrelang. Bis es klappt. Oder bis, im allerschlimmsten Fall, Menschen bei dem Versuch die Grenze zu überqueren sterben. Vor wenigen Tagen erreichte uns die traurige Nachricht, dass eine Frau die mit ihrer Familie auf dem Game war in einem Fluss ertrank. Dieser Tod ist kein Einzelfall. Er hätte verhindert werden können. Genauso wie der Tod der vielen tausend Menschen die im Mittelmeer ertrunken sind. Es darf nicht sein, dass Menschen sich in Lebensgefahr begeben müssen um nach Europa zu kommen. Wir brauchen offene Grenzen, und zwar sofort.


[1] Squats sind selbstorganisierte Wohnformen, in Bosnien meist in sonst unbewohnten Bauruinen. Die Besitzer:innen wissen meist über die dort wohnenden Menschen Bescheid und unterstützen diese auch oftmals.

[2] Das Game – ein selbstgewählter Begriff – bezeichnet den versuchten Grenzübertritt in die EU

[3] Illegales zurückdrängen von PoM* durch die Polizei (hier von Kroatien zurück nach Bosnien)