Das Camp Lipa befindet sich ca. 30 km entfernt von Bihać an der Grenze zum benachbarten Kanton, Republica Srpska. Es liegt in den Bergen, neben einer alten Kapelle und einer versiegten Wasserquelle, und erinnert wegen der abgelegenen Lage und des eisigen Windes an eine Militärbasis. Wer nicht freiwillig zu Fuß den Weg nach hier oben findet, kann auch unfreiwillig in einem schwarzen Van mit vergitterten Fenstern gefahren werden. Dies passiert manchmal, wenn die Special Police ihre Runden durch Bihać dreht, um die Stadt „aufzuräumen“. In den Wäldern unmittelbar um Camp Lipa leben etwa 300 weitere Menschen unter Plastikplanen in Koexistenz.
Gestern hatten wir die Möglichkeit das Camp Lipa zu besuchen. Der Ort ist in den letzten Wochen zum Politikum des sogenannten Migrationsmanagements in Bosnien geworden. Die IOM (Internationale Organisation für Migration) hat als Betreiberin des Lagers ein Ultimatum gestellt und angekündigt, das Camp aufzulösen, werde am Mittwoch keine Lösung für die langanhaltenden Missstände in Lipa gefunden.
Seit dieser Ankündigung grassieren Gerüchte, Mutmaßungen, Ängste bei Schutzsuchenden, in der lokalen Bevölkerung und in der alternativen Supportszene Una Sanas. Es werden mögliche Szenarien durchgedacht und Spekulationen angestellt. Letztlich wird es wohl erst genauere Informationen geben, wenn die Entscheidungen von IOM und der Lokalregierung tatsächlich ausgeführt werden. Es wird davon gesprochen, dass ein Teil der Menschen aus Lipa in Bussen aus der Grenzregion nach Sarajevo und Tuzla gebracht werden sollen. Um auf ein solches Szenario vorbereitet zu sein, reisen derzeit besorgte NGO-Mitarbeiter:innen quer durchs Land an die Grenze und hoffen dort, mehr Informationen zu sammeln. Sie müssten sich auf eine solche Aktion vorbereiten, um aufzufangen, was die Lager in den Zielregionen nicht leisten können. Bestätigte Informationen gibt es jedoch nicht.
Ein weiteres Worst-Case-Szenario wäre, dass Lipa schließt und die etwa 1.300 Bewohner wegen der Unfähigkeit der Verantwortlichen alternative Versorgungsstrategien zu entwickeln in die Obdachlosigkeit entlassen würden.
Ein Blick in das Gesicht des Leiters von SoS Bihać reicht, um sich vorstellen zu können, was dieses Szenario bedeuten würde. Neben dem Roten Kreuz und IOM hat er als Einziger die Erlaubnis erhalten, wenigstens Schlafsäcke und ähnliche Güter der Minimalversorgung an die Schutzsuchenden zu verteilen, bevor diese sich nach Verlassen des Camps aus Verzweiflung erneut auf den Weg Richtung EU machen. Solche Grenzwanderungen sind eigentlich wegen des Frosts schon zu gefährlich.
Ein Teil der Campbewohner ist freiwillig zu Fuß hierher gelaufen; der Rest wurde mit schwarzen Vans mit vergitterten Fenstern in das Camp transportiert.
In den Wäldern und Ruinen Una Sanas leben ohnehin bereits Tausende. Im bosnischen Winter sinken die Temperaturen weit unter die Gefriergrenze, sodass bei einer planlosen Schließung Camp Lipas zusätzlichen 1.300 Menschen der Tod durch Kälte und mangelnde Versorgung droht.
Warum geht IOM diesen Schritt und was sind ihre Forderungen?
Um zu verstehen, warum eine Campleitung mitten im Winter damit droht, ihre Arbeit niederzulegen, und riskiert ihre Bewohner im Schnee sterben zu lassen, muss man sich zunächst bewusst machen, dass Lipa eigentlich kein Camp ist.
Lipa ist ein Provisorium, dass im Sommer als Notlösung geschaffen wurde. Inmitten einer Pandemie sollte kurzfristig ein Ort mit mehr Platz außerhalb von Bihać errichtet werden.
Umsäumt von Stacheldrahtzaun stehen einige Festzelte aus der Schweiz neben Bürocontainern und einem Generatorenpark. Diese pusten täglich Unmengen an Abgasen in die Luft, um die riesigen Zelte notdürftig zu wärmen. Es gibt ein Essenszelt und einige Schlafzelte in denen jeweils 300 Männer auf 800 qm schlafen. Geschlafen wird in Lipa meist tagsüber, weil es nachts zu kalt ist. Abends werden im Speisezelt Bollywoodfilme gezeigt, ansonsten versuchen sie ihre Körper in Bewegung zu halten und nicht auszukühlen. Für 1.300 Menschen gibt es 60 Duschen, von denen nur 15 funktionieren. Das Wasser aus den Hähnen ist eiskalt.
Die Finanzierung dieses Provisoriums ist im November ausgelaufen, zwar wurden weitere Gelder zugesagt, um Strom- und Wasserleitungen anzulegen und die abschüssigen Lehmwege zu befestigen, jedoch blieb dieses Versprechen nach Verstreichen immer wieder neuer Fristen unerfüllt. Ohne das Anlegen von festen Wegen werden die Pfade bei Regen zu Matsch- und bei Frost zu Eisbahnen, was das Gelände nur noch schwer begehbar macht.
Zudem müssten die Zelte durch mindestens 300 beheizte Container ersetzt werden, damit das Lager den Winter überstehen könnte.
In vier parlamentarischen Sitzungen Mitte Dezember wurde diese Problematik mit unterschiedlichen Lösungsansätzen besprochen. Schlussendlich wurde bekanntgegeben, dass Lipa geschlossen und die Bewohner nach Camp Bira gebracht werden sollen, um im Frühjahr erneut nach Lipa zu ziehen. Dagegen spricht jedoch, dass der Bürgermeister von Bihać vor einigen Wochen mit dem Versprechen, das ungeliebte Camp Bira inmitten der Stadt zu schließen, die Lokalwahl gewonnen hatte. Nach Bekanntwerden des Beschlusses erklärte er, dass er den Beschluss aus Sarajevo ignorieren werde, da es sich hierbei nur um einen weiteren Trick der Regierung handle. Diese würde Gelder von der EU für den Betrieb der Camps erhalten, jedoch den Kanton bei der tatsächlichen Durchführung der Aufgabe alleine lassen.
Der bosnische Grenzkanton Una Sana ist aufgrund seiner geographischen Lage Anlaufstelle für eine Vielzahl von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Viele von ihnen versuchen über die „Balkanroute“ an der Grenze zu Kroatien in die EU einzureisen, um hier Schutz zu suchen.
Um zu vermeiden, dass diese Menschen überhaupt erst auf europäisches Territorium gelangen, investiert die EU seit Beginn dieser Entwicklung jährlich Millionen in den sogenannten „Schutz“ ihrer Grenzen. Schutzsuchende und Pressevertreter:innen berichten im Sommer 2020 von systematischen Push-Backs und einer Spirale der Gewalt. Diese nahm im Oktober 2020 ihren traurigen Höhepunkt mit Berichten sexualisierter Gewalt und folterähnlichen Szenen, die der Guardian recherchierte.
Una Sana wird durch die europäische Grenzpolitik, die Lager als Lösung betrachtet, unfreiwillig zur Gastgeberin der Schutzsuchenden. Die IOM ist hierbei neben der bosnischen Regierung eine der wichtigsten Partnerinnen im sogenannten Migrationsmanagement. Sie betreibt im Auftrag der EU in Una Sana zwei Lager, deren Nutzung Familien, Minderjährigen und Minderheiten vorbehalten ist. Cedra und Borici haben zusammen eine Kapazität für etwa 800 Menschen und befinden sich in und um Bihać. Soweit sich dies beurteilen lässt, entsprechen diese Unterkünfte grundlegenden humanitären Standards. Hier wird es kleinen Organisationen ermöglicht, beispielsweise Kinderbeschäftigungen und Sprachkurse anzubieten.
Extrem umstritten sind jedoch die Lager, die ausschließlich männliche Personen unterbringen sollen. In beiden relevanten Städten an der bosnisch-kroatischen Grenze, Bihać und Velika Kladuša, wurde ein solches Lager eingerichtet. In Velika Kladuša befindet sich das Lager Miral, das derzeit etwa 1.000 Bewohner fasst. Es ist aufgrund von Protesten der Bevölkerung als Spielball rechtspopulistischer Lokalpolitik ständig von der Schließung bedroht. Das Camp Bira in Bihać hat eine Kapazität für etwa 2.000 Personen, befindet sich mitten in der Stadt und ist nun zum weiteren Symbol des politischen Machtkampfes zwischen der EU, der IOM, der Regierung in Sarajevo und der Lokalregierung in Bihać geworden.
Die EU hat die Errichtung von humanitären Lagern bezahlt und möchte, dass die bosnische Regierung und die IOM als Empfängerinnen ihrem Auftrag nachkommen. Die IOM verlangt von der Regierung in Sarajevo die Weiterleitung der versprochenen Gelder für den Umbau der von ihr geleiteten Camps und erhöht nun mit der Androhung der Schließung von Lipa den Druck. Sarajevo beruft sich darauf, dass es mit Bira ein neues und EU-Standards entsprechendes Camp gäbe, sodass es keiner weiteren Geldzahlung an die IOM brauche. In dieses Camp wurde nach den Angaben der Regierung viel Geld investiert, bevor die lokale Regierung es im Herbst schließen ließ. Die Lokalregierung gab damit wiederum dem Druck der Bevölkerung nach, auf deren Rücken die Probleme Europas seit Jahren ausgetragen werden.
Schlussendlich zeigen die Umstände in Bihać und Velika Kladuša erneut, dass die Lagerpolitik, die die EU an ihren Außengrenzen fortführt, keineswegs dazu beiträgt, die Herausforderungen zu bewältigen. Im Gegenteil: Durch die Unterwerfung unter rechte Forderungen der Abschottung werden kurzfristige Interessen verfolgt, die schlussendlich das Leid der Betroffenen, ob unter den Schutzsuchenden oder in der Lokalbevölkerung, massiv verstärkt. Die EU muss aufhören die Augen vor diesem Leid zu verschließen und ihre menschenverachtende Politik ändern.
Una Sana ist keine Lagerhalle, evakuieren jetzt!