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Schläge statt Schutz

An ihren Außengrenzen tritt die EU Kinderrechte mit Füßen. U.F. wehrt sich mit einer Beschwerde vor dem UN-Kinderrechtsausschuss gegen die widerrechtliche Misshandlung. Foto: Max Gödecke.

Weltweit sind 36,5 Millionen Kinder auf der Flucht. 40 Prozent der weltweit Fliehenden sind minderjährig. Da Kinder nur ein Drittel der Weltbevölkerung ausmachen, sind sie unter Schutzsuchenden überrepräsentiert[1]. Aufgrund ihres jungen Alters sind Kinder besonders vulnerabel – auch auf der Flucht. Die UN-Kinderrechtskonvention ist ein internationales Abkommen, in dem besondere Rechte für Kinder definiert werden, um der besonderen Vulnerabilität von Kindern gerecht zu werden. 186 Staaten weltweit haben die Konvention ratifiziert und sind somit an ihren Inhalt gebunden. Unter den Unterzeichnenden sind alle EU-Mitgliedstaaten, also auch Kroatien und Slowenien. Damit sind sie rechtlich verpflichtet Kinderrechte zu achten.

Scheinheilige Werte

Immer wieder rühmt sich die EU mit ihren Werten. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Menschenrechten seien zentrale Werte der Union, die sie von anderen Staaten dieser Welt abhebt und ihnen auf dem internationalen politischen Parkett moralische Überlegenheit verleihen. Schaut man jedoch an die Außengrenzen der EU, ist von den viel gelobten Werten wenig zu sehen. Menschenrechtsverletzungen in Form von illegalen Pushbacks, Polizeigewalt, Folter und der systematischen Verweigerung des Zugangs zu einem fairen Asylprozess, sind fester Bestandteil der europäischen Migrations- und Grenzsicherungspolitik. Auch Kinder sind von der Grenzgewalt und der EU-Abschottungspolitik betroffen. Viele Familien flüchten mit Kindern, und unzählige Minderjährige sind allein unterwegs.

Kinderrechte werden mit Füßen getreten

An den eingezäunten, zugemauerten, mit Kameras und Drohnen bewachten Grenzen der EU, werden die flüchtenden Kinder und Jugendliche vom europäischen Grenzschutzmechanismus aufgehalten und misshandelt. Durch die illegalen Pushbacks, müssen Minderjährige monate-, teils jahrelang in unmenschlichen Bedingungen im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet ausharren.

Durch die Strapazen einer Flucht in die EU sind viele Kinder stark traumatisiert. Dadurch entsteht ein hohes Risiko für Entwicklungsverzögerungen. Außerdem können viele Kinder auf ihrer Flucht keine bis wenig Schulbildung genießen. Durch die menschenverachtende Migrationspolitik trägt die EU aktiv dazu bei, die Entwicklung von flüchtenden Kindern zu hindern, anstatt, wie es die Mitgliedsaaten durch ihre Unterschrift unter der Kinderrechtskonvention zugesichert haben, sie zu schützen und zu fördern.

Als Kind allein auf der Flucht

U.F.[2] war 8 Jahre alt, als er seine Heimat in Myanmar verlassen musste. Er gehört zu der von der burmesischen Regierung verfolgten und unterdrückten Volksgruppe der Rohingya. Bei einem Angriff auf sein Dorf wurde U.F. von einer Handgranate verletzt. Um medizinische Hilfe zu bekommen, brachte man ihn ins benachbarte Bangladesch. Als U.F. wieder genesen war und er zurück zu seiner Familie wollte, wurde ihm die Rückreise nach Myanmar verwehrt. Er hat keinen Pass (sog. staatenlos[3]) und konnte die Grenze zurück nach Myanmar nicht legal überqueren. So machte er sich auf den Weg in die EU, um dort Schutz zu suchen. Nach einem acht Jahre langen Fluchtweg erreichte der dann sechzehnjährige U.F. im Winter 2020 das bosnisch-kroatische Grenzgebiet.

Von Kroatien und Slowenien misshandelt

In Bosnien hauste U.F. monatelang in dreckigen, zerstörten Ruinen. Internationale Organisationen, wie IOM (International Organisation of Migration) und DRC (Danish Refugee Council) und lokale staatliche Strukturen versorgten U.F. nur unzureichend. Seine speziellen Bedürfnisse als alleinstehendes Kind wurden nicht beachtet. Regelmäßig überquerte U.F. zu Fuß die grüne Grenze nach Kroatien und erreichte EU-Territorium. Immer wieder wurde er von der kroatischen Polizei aufgegriffen. Die Beamt:innen fragten U.F. nicht nach seinem Alter. Dass er noch ein Kind war und somit durch die besonderen Rechte der UN-Kinderrechtskonvention, wie zum Beispiel die Rücksichtnahmepflicht auf das Kindeswohl bei allen staatlichen Maßnahmen, geschützt werden sollte, spielte keine Rolle. Artikel 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention ist die zentrale Leitlinie für Kinder betreffende staatliche Entscheidungen und Maßnahmen. Er besagt dass “bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen,[…] das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.” sein soll. Diese und weitere, spezifische Vorschriften der Kinderrechtskonvention wurden wiederholt von den eigentlich an die Vorgaben gebundenen kroatischen Beamt:innen missachtet. Der Schutz der Kinderrechtskonvention lief leer. Einmal schaffte es U.F. mit einer Gruppe sogar bis nach Slowenien. Dort wurde er von der slowenischen Polizei aufgegriffen. Diese hat ihn willkürlich als volljährig eingestuft und ohne jegliches offizielles Verfahren, ohne die Einschaltung eines:einer Dolmetscherin nach Kroatien zurück geschoben. U.F. wurde dadurch widerrechtlich die Möglichkeit verwehrt einen Asylantrag in Slowenien zu stellen. Nach der Übergabe an kroatische Beamt:innen schoben diese ihn erneut zurück nach Bosnien und Herzegowina.

U.F. wehrt sich

Im Herbst 2021 schaffte U.F. es nach Deutschland und stellte dort einen Asylantrag. Er wandte sich mit der Unterstützung von Blindspots-Aktivist:innen, die er im bosnischen Grenzgebiet kennengelernt hatte, an die Menschenrechtsanwält:innen des European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Er will Kroatien und Slowenien für die Rechtsbrüche zur Rechenschaft ziehen. Deswegen hat U.F. eine Beschwerde vor dem UN-Kinderrechtsausschuss, der “Hüterin” der UN-Kinderrechtskonvention, gegen die beiden Staaten eingereicht. Mit der Beschwerde richtet U.F. die Aufmerksamkeit der UN auf die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Er will, dass die internationale Gemeinschaft nicht länger wegschaut, während EU-Mitgliedstaaten als Teil ihrer Abschottungspolitik Kinderrechte systematisch missachten. 

Wenn ihr mehr über U.F.s Geschichte und seine Beschwerde vor dem UN-Kinderrechtsausschuss erfahren wollt, hört euch ein Interview mit U.F. und einer Legal Advisorin vom ECCHR in der neuen Folge vom “Blindspots-Podcast” an.

Hier findet ihr mehr Infos über U.F.s Beschwerde: https://www.ecchr.eu/fall/pushbacks-un-kinderrechtsausschuss-kroatien-slowenien/


[1] https://data.unicef.org/topic/child-migration-and-displacement/displacement/

[2] Klarname zum Schutz der Privatsphäre nicht genannt

[3] Ein:e Staatenlose:r ist gem. des UN-Übereinkommens zur Verminderung von Staatenlosigkeit eine Person „die kein Staat aufgrund seiner Gesetzgebung als seinen Angehörigen betrachtet.”