Seit Ende Juli häufen sich Versuche von Grenzübertritten nach Litauen, Lettland und Polen aus Belarus. Die People on the Move (PoM) sind hauptsächlich Kurd*innen aus dem Irak und Menschen aus Afghanistan. Nach Litauen sind dieses Jahr bisher rund 4.000 Personen migriert, in Lettland sind es ca. 800, in Polen gab es ca. 9.000 versuchte Grenzübertritte. Seit der belarussische Diktator Lukaschenko öffentlichkeitswirksam angekündigt hat, niemanden vor der Durchreise in die EU über Belarus zu hindern, organisieren PoM ihre Flucht über Belarus. Die PoM fliegen nach Minsk, bekommen dort Touristenvisa und fahren von dort aus per Taxi an die EU-Grenze. Personen berichten, dass sie in Minsk abgeholt und an die Grenze gefahren werden, teilweise begleitet von belarussischem Militärpersonal. Es gibt auch Berichte von Personen, die angeben, als Tourist*innen nach Belarus gereist, in Minsk entführt und zur Grenze verschleppt und zum Grenzübertritt gezwungen worden zu sein.
In Lettland, Litauen und Polen wurde im August der Notstand ausgerufen, und in dem Zuge der „Grenzschutz“ stark verschärft. PoM berichten von Pushbacks und Polizeigewalt von beiden Seiten der jeweiligen Grenze. Inzwischen schaffen es nur noch wenige nach Lettland, Litauen oder Polen und Belarus lässt niemanden zurück, weil Visa dort nach 30 Tagen auslaufen. Aus diesem Grund stecken mehrere hundert Menschen seit Wochen in der Grenzregion im Wald fest, werden dort hin- und herdeportiert, oder tauchen in Belarus unter, falls sie es zurück ins Landesinnere schaffen. Viele PoM sind unterernährt, krank und unterkühlt. Vor einer Woche wurden an der belarussisch-polnischen Grenze vier Menschen tot aufgefunden. Viele Menschen werden von Angehörigen vermisst.
Für PoM war eine derartig katastrophale Situation nicht absehbar. Da große Teile des Grenzabschnittes zwischen Belarus und Lettland, Litauen und Polen eine sogenannte grüne Grenze, also bisher ohne Zaun waren, sahen viele die Chance, einen risikoärmeren Weg in die EU nutzen zu können. Deswegen sind auch besonders vulnerable Personen unter den PoM. NGOs und Aktivist*innen wird zum Teil verwehrt, mit PoM persönlich in Kontakt zu treten und humanitäre und rechtliche Unterstützung zu leisten. Aufgrund des starken Repressionsdrucks in Belarus ist es quasi unmöglich, PoM von dort aus zu unterstützen.
Aus Sicht der litauischen, lettischen und polnischen Regierung ist die Situation eindeutig: Belarus führt einen „Hybridkrieg“ gegen sie und benutzt PoM als „Waffe“. Ähnlich wie die Türkei versucht Belarus seine geopolitische Lage als Druckmittel zu nutzen – eine Reaktion auf die Sanktionen, die die EU letztes Jahr gegen Belarus verhängt hat. Die Kriegsrhetorik ist jedoch problematisch, weil sie Angst in der lokalen Bevölkerung (re-)produziert und suggeriert, dass es zum derzeitigen Umgang mit der Migration keine Alternative gibt. Die Aufnahme von PoM wird mit erfolgreicher „Erpressung“ durch das Lukaschenko-Regime gleichgesetzt. PoM werden in diesem Diskurs objektiviert und Fluchtgründe werden abgesprochen. Dementsprechend wenig Rückhalt finden lokale NGOs und Aktivist*innen, die sich für die Aufnahme der PoM einsetzen.
Das Framing der „hybriden Kriegsführung“ dient auch der EU als Legitimationsgrundlage für eine harte Abschottungspolitik, die neue Frontex-Einsätze und den Bau von Grenzzäunen in Polen, Litauen und Lettland beinhaltet. Ein Urteil des europäischen Gerichtshofs vom 25.08. erklärt die Abweisung von PoM an der litauischen und polnischen für rechtmäßig. Die EU unterstützt damit drei weitere Länder mit EU-Außengrenzen dabei, die Festung Europa auszubauen, um politisch ungewollte Einwanderung zu verhindern. Während Lettland, Litauen und Polen mit europäischer Unterstützung PoM abweisen, Menschenrechtsverletzungen begehen und das Recht auf Asyl verweigern, wird dem belarussischen Regime die alleinige Verantwortung für die Situation zugeschoben.