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Es gibt keine Migrationskrise

Migration ist ein essenzieller Bestandteil der menschlichen Geschichte. Anstatt dies anzuerkennen, werden Schutzsuchende von EU-Politiker:innen für ihren Machterhalt instrumentalisiert. Dieser Artikel wurde vorab im Migazin veröffentlicht.

„Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsströme“. Diese populistischen Begriffe werden gerne von Politiker:innen in der Debatte um Migrationspolitik verwendet. In der politischen Arena der EU wurde eine rassistische Rhetorik gegenüber Schutzsuchenden normalisiert. Problematisch ist nicht alleine die Abwertung von Schutzsuchenden durch diese gängigen Begriffe. Sie zeichnen auch ein falsches Bild von Migrationsbewegungen, die sich überwiegend auf Migration vom „Globalen Süden“ in den „Globalen Norden“ beschränken und missachten die historische Normalität von Migration.[1]

Menschen sind Migrationstiere

Migrationsbewegungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Ob nomadische Völker, die ihre Lebensgrundlage durch regelmäßiges Umherziehen bestreiten und somit das Migrieren ihr Kernidentifikationsmerkmal war und ist, Umsiedlungen aufgrund imperialistischer Unterwerfungsbestrebungen, unfreiwillige Migration aufgrund von Verschleppungen, Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen oder wirtschaftlich motiviertes Umziehen. Migration ist kein Phänomen der Moderne, sondern durchzieht, in verschiedenen Formen, die Menschheitsgeschichte.

Migration ist außerdem keine Einbahnstraße. Rückwanderungen und zirkuläre Migrationsbewegungen waren und sind essentieller Bestandteil von globalen Migrationsbewegungen.[2] Das Verlassen des Geburtsortes auf der Suche nach einem besseren Leben ist Teil der menschlichen Identität. Wer einige Generationen in die eigene Vergangenheit zurückschaut, wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein:e oder mehrere Vorfahren finden, die Migrant:innen waren. Im Jahr 2021 wurden laut statistischem Bundesamt 27,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland oder ein Elternteil nicht im Land geboren. Bezieht man vorausgehende Migration mit ein, wächst der Anteil immer stärker: „Migration ist somit wesentlich älter als Deutschland“. Früher oder später, auf die eine oder andere Weise, haben wir alle eine Migrationsgeschichte oder Gegenwart.

Migrant:innen sind (nicht) alle gleich

Aus dieser weiten Verbreitung von Migration folgt aber keine generelle Normalität und Akzeptanz der grenzübergreifenden Mobilität. Obwohl Migrant:innen ihr namensgebendes Hauptmerkmal –das Umziehen in eine andere Region – vereint, wird in der Diskussion über Migrationsbewegungen die unterschiedlichen Motivationen und Migrationsrichtungen als differenzierender Faktor betont. Entlang dieser Unterscheidung werden Migrant:innen im öffentlichen Diskurs in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt. Auslandssemester oder Schüler:innenaustausche werden als wertvolle Erfahrungen anerkannt und die Arbeit von Expats für multinationale Konzerne oder neokoloniale Staatsinstitutionen unter dem Deckmantel der „Entwicklungshilfe“ wird als Abenteuer oder Engagement glorifiziert.

Gleichzeitig werden Menschen die aus vielschichtigen Gründen vom „Globalen Süden“ in den „Globalen Norden“ migrieren als Bedrohung für die Wirtschaft und Jobsicherheit von der lokalen Bevölkerung angesehen. Ironischerweise ist es aber keine Bedrohung für den Arbeitsmarkt, wenn die Produktion von der EU in Länder mit niedrigeren Lohnniveau verlagert wird, denn davon profitiert ja der „Globale Norden“.

In ein ebenso schlechtes Licht werden Migrant:innen gerückt, die für Asyl in die EU kommen. Propagandistische, rechts-konservative Parteien, sowie neoliberale Stimmen und selbsternannte Vertreter:innen der sog. „gesellschaftlichen Mitte“ zeichnen sie als Bedrohung für die sogenannte heimische Kultur und wirtschaftliche Stabilität. Diese Zuschreibungen sind nicht nur rassistisch und menschenfeindlich. Die Betonung der zwei künstlich geschaffenen Migrationskategorien ist zudem falsch.

Wir sollten stattdessen die neokoloniale Migration kritisieren. Wer als Auslandsvertreter:in einer westlichen Firma in ein Land des globalen Südens migriert und dort die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung stützt, sollte nicht als weltoffene:r Geschäftsperson geachtet, sondern für seinen:ihren neokolonialen, ausbeuterischen Lebensstil kritisiert werden. Wer als Beruf die Interessen westlicher Staaten, Staatenverbunde oder Organisationen vertritt, setzt westliche Interessen durch.

Wer einen Freiwilligendienst in einem Land des „Globalen Südens“ macht, baut keine globalen Ungleichheiten ab, sondern erweitert den eigenen Horizont, sammelt Erfahrungen und entwickelt Fähigkeiten, die sich positiv auf die eigenen Jobperspektiven auswirken. Höhere Gehälter für Expats[3] im Vergleich zu lokalen Angestellten tragen zudem in vielen Fällen zur Gentrifizierung bei. Solche Formen der Migration sind problematisch. Expats, Auslandsvertreter:innen und Freiwilligendienstleistende sind schlechte Migrant:innen.

Menschen, die aus wirtschaftlich schwächeren Ländern auf Arbeitssuche beispielsweise nach Westeuropa migrieren, füllen dort die Arbeitsmarktlücken und werden oftmals dabei auch noch ausgebeutet. Ohne wirtschaftlich motivierte Migration nach Deutschland wäre der Tonnies-Schlachtbetrieb nicht am Laufen und das Schweinesteak im Discounter nicht so günstig. Ohne Saisonarbeiter:innen aus Süd-Ost-Europa gäbe es keine Spargelsaison. Ohne Arbeitsmigrant:innen könnten sich privilegierte Deutsche ihre Einkäufe nicht von einem:einer unterbezahlten Fahrradkurier:in nach Hause liefern lassen und weiße Deutsche müssten ihre öffentlichen Toiletten selbst putzen. Diese Migrant:innen leisten einen essentiellen Beitrag zur westeuropäischen, kapitalistischen Wirtschaft. Anstatt mit Dankbarkeit, Hochachtung und Respekt, begegnet man ihnen mit schamloser Ausbeutung, rassistischen Anfeindungen und diskriminierende Strukturen.

Fast niemand will in die EU

Politiker:innen aller etablierten Parteien der Bundesrepublik bezeichnen die Migrationsbewegungen nach Europa im Jahre 2015 gerne als „Flüchtlingskrise“ oder „Flüchtlingswelle“. Faktisch ist dies falsch. Eine Krise gab es in dem Jahr in Syrien, wo ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach, nicht in der EU. Nicht nur gab es keine blutigen Konflikte in der Union, es gab noch nicht einmal nennenswerte wirtschaftliche Einbrüche. Die Krisenrhetorik ist daher schlichtweg fehlgeleitet.

Bedenkt man, dass rund 86 Prozent der Schutzsuchenden weltweit in Länder des globalen Süden fliehen und gar nicht nach Europa kommen (wollen), ist auch das gerne gezeichnete Bild eines „Ansturms“ oder einer „Welle“ inkorrekt. Die meisten Schutzsuchenden bleiben in ihrer Region, auch weil sie, wenn es irgendwann wieder möglich sein sollte, gerne in ihre Heimat zurückkehren wollen. Die vergleichbar ökonomisch schlechter gestellten Länder des „Globalen Süden“ haben eine höhere finanzielle Belastung durch Schutzsuchende, als der reiche und trotzdem jammernde Westen.

Selbst wenn sie alle kämen

Der allgemeine Wohlstand Westeuropas fußt alleine auf der Jahrhunderte langen und anhaltenden Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen im „Globalen Süden“ und von Arbeiter:innen hierzulande. Wir sind für die Armut, die kaputte Natur, die instabilen politischen Verhältnisse weltweit verantwortlich. Und wir profitieren davon. Ohne die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in Indien, Bangladesch und Thailand, ohne Raubbau im Kongo, ohne die Abholzung von Regenwäldern und Palmen zur Holz- und Ölproduktion und ohne die maßlose Produktion von Co2, wegen der viele Regionen des „Globalen Südens“ immer unbewohnbarer werden, wäre der Westen nicht das vermeintliche Schlaraffenland. Alles was wir „besitzen“ und für uns beanspruchen ist gestohlen und fußt in Menschenrechtsverletzungen und der Zerstörung von Lebensgrundlagen von Menschen weltweit.

Aus moralisch und ethischer Perspektive müssten Europäer:innen daher, selbst wenn drei Milliarden Menschen nach Europa kommen wollen würden, um dort Arbeit und Sicherheit zu finden, diese mit offenen Armen willkommen heißen. Streng genommen müsste der Westen seine Ressourcen und seinen Reichtum nicht nur mit allen aus dem Globalen Süden kommenden teilen, moralisch sauber und historisch gerecht wäre es, alle angehäuften Reichtümer und allen Wohlstand bedingungslos und allumfänglich auszuhändigen.

Bedenkt man die Unfreiwilligkeit von Flucht ist die Bekämpfung von Fluchtursachen ein weiterer moralischer Imperativ, den die von globaler Ungleichheit profitierenden Länder leisten müssten, anstatt Zuwandernde zu diskriminieren und degradieren. Bewegungsfreiheit für alle kann und sollte zwar ein Ziel von gerechter Migrationspolitik sein, jedoch sollte die Möglichkeit des Bleibens ein weiteres Ziel sein. Nur wer eine reale Möglichkeit hat in der Heimat zu bleiben und dort ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben zu führen, kann auch selbstbestimmt entscheiden zu migrieren.

Eine bessere Verteilung der vorhandenen Ressourcen, unter anderem durch Grenzöffnungen für alle, ist der erste Schritt zu einer gerechteren Migrationspolitik. Im zweiten Schritt müssen jedoch die Ursachen für erzwungene Migration, wie Umweltzerstörung, Neokolonialismus, Kapitalismus und globale Ungerechtigkeit, abgeschafft werden.


[1] Der Begriff Migration wird hier als Überbegriff für alle menschlichen Umsiedlungsprozesse genutzt. Auch wenn es historisch wie aktuell umfassende Migrationsbewegungen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen gibt, liegt der Fokus dieses Textes auf der Betrachtung von staatsüberquerenden Migrationsbewegungen. Die Motivation der Migration, beispielsweise Arbeit, oder Verfolgung spielt in dieser Begriffsverwendung keine Rolle.

[2] Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Bonn 2016; siehe auch überblickend: Patrick Manning, Migration in World History, 2. Aufl. New York 2013; Immanuel Ness (Hg.), The Encyclopedia of Global Human Migration, 5 Bde., Malden, MA 2013; Michael Fisher, Migration. A World History, Oxford 2014.

[3] Expatriats (kurz: Expats) sind Personen, die ohne Einbürgerung in einem ihnen fremden Land leben. Oft handelt es sich um Arbeitnehmer:innen, die zur ausländischen Niederlassung ihres Unternehmens/Organisation entsandt werden. Im Gegensatz zu Immigrant:innen fehlt es Expats oft an einem “Integrationswillen/ –bestreben,” weil ihr Aufenthalt zeitlich begrenzt ist und sie die Gastkultur rassistisch exotisieren und abwerten.