You are currently viewing Die EU-Außengrenze: Systematische Grenzgewalt und politisches Wegschauen
Foto: Lyoz Bandie

Die EU-Außengrenze: Systematische Grenzgewalt und politisches Wegschauen

Triggerwarnung: In diesem Text wird Polizeigewalt und der Tod eines ungeborenen Kindes behandelt.

Es ist etwa 22 Uhr und dunkel draußen, die kleinen Feuer um uns herum sind das einzige Licht. Wir sitzen auf einer Wiese in der Stadt Velika Kladuša in Bosnien, nahe der kroatischen und damit EU-Grenze. Unsere Gastgeber:innen haben uns erst zum Tee und dann zum Abendessen eingeladen. Es gibt selbstgebackenes, warmes Fladenbrot und Katschalu, ein afghanisches Gericht aus Kartoffeln und Tomatensauce. Wir alle benutzen dabei das Fladenbrot als eine Art Löffel und essen vom selben Teller. Einige der Hände in dem Topf gehören People on the Move (PoM), andere zu einer kleinen Gruppe von Freiwilligen. Zu letzterer gehöre auch ich. Als Teil von Blindspots konzentriert sich unsere Arbeit insbesondere auf die Lieferung von Feuerholz und den Bau und Ausbau von Infrastruktur wie Duschen oder Toiletten – im Austausch und in enger Zusammenarbeit mit den Schutzsuchenden und anderen solidarischen Organisationen vor Ort. Um uns herum auf der großen Wiese, wo die Menschen notdürftig in Zelten und unter Plastikplanen unterkommen, bilden sich abends viele kleine Feuer, an denen gekocht und gemeinsam gegessen wird.

Als Freiwillige:r erweckt dieses scheinbar familiäres, fast schon gemütliches Bild einen romantisierenden Eindruck, der die Lebensrealität der PoM verkennt. Im Sommer ist das Holz die Möglichkeit zu kochen, im Winter wird das Feuer zum überlebenswichtigen Schutz vor der Kälte. Dass wir überhaupt bei einer PoM-Familie zum Essen eingeladen sind, liegt daran, dass sie bei ihren bisherigen Versuchen des EU-Grenzübertritts immer wieder gepushbacked worden sind.

Pushbacks – tägliche Realität an der EU-Grenze

Diese Handlungen der Polizei sind nach internationalem Recht verboten. Auch illegal eingereiste Menschen haben das Recht, Asyl zu beantragen und dürfen nicht ohne Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit kollektiv ausgewiesen werden. Das wurde bereits 1950 in der europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt und von jedem EU-Staat, also auch Kroatien, unterzeichnet. Das Wort Pushback ist vielen aus dem Zusammenhang mit der Seenotrettung im Mittelmeer und den Einsätzen von zum Beispiel der griechischen oder italienischen Küstenwache bekannt. Doch auch an Landgrenzen werden Menschen unrechtsmäßig und gewaltsam abgeschoben. Etliche Male berichten mir PoM, dass ihre Handys zerstört und ihr Geld bei jedem Pushback von der kroatischen Polizei unrechtmäßig einbehalten wird. Teilweise werden sogar vor ihren Augen ihr Geld, Kleidung und mitgenommenen Schlafsäcke und Rucksäcke verbrannt oder zerschnitten.

Doch viel schlimmer als diese Diebstähle sind die unzähligen Körperverletzungen und psychischen Erniedrigungen, deren Wunden als Zeugen der Gewalt an den Körpern bleiben. PoM erzählten, wie sie von der Polizei gezwungen wurden, sich zu entkleiden, um dann der Reihe nach mit Schlagstöcken verprügelt zu werden. Andere berichten, genötigt worden zu sein, Polizeifahrzeuge zu putzen oder Stromzäune anzufassen. Auf manchen Oberarmen sehe ich frische Narben von ausgedrückten Zigaretten, welche Polizist:innen Berichten zufolge auf ihnen hinterlassen. Kinder müssen zusehen, wie ihren Eltern Gewalt zugefügt wird oder werden sogar selbst mit der Waffe bedroht.

All dies sind keine Einzelfälle, sondern seit Jahren systematische Vorkommnisse, welche von Organisationen wie Border Violence Monitoring Network dokumentiert und durch Videoaufnahmen eines europäischen Rechercheteams mit unter anderem der ARD belegt werden. Auch das Europäische Anti-Folter-Komitée (CPT) bestätigt Vorwürfe der Folter und des systematischen Missbrauchs von Geflüchteten durch kroatische Beamte.

Moralischer Spagat der EU-Politiker:innen

Praktisch bewegt sich die Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten zwischen Abstreiten, der Abwälzung von Verantwortung und der altbekannten Idee von „Einzelfällen“. Beispielsweise dementierte Kroatiens Regierung auf der einen Seite noch im Sommer jegliche Teilhabe an illegalen Abschiebungen. Nach der klaren Identifizierung von vier an Pushbacks beteiligten Polizeibeamten betonte der kroatische Polizeichef Nikola Molina nun, dass diese eigenmächtig gehandelt hätten und es wurden drei von ihnen suspendiert. Angesichts der langjährigen und systematischen Dokumentation gewaltsamer Pushbacks ist dieser Schritt nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver.

Erst im September hat EU-Präsidentin Ursula Von der Leyen in der jährlichen Rede zur Lage der EU hervorgehoben, dass die europäischen Werte „durch unsere Rechtsordnung garantiert“ sind – „in jedem Mitgliedstaat unserer Union.“ Doch beispielsweise im Bezug zu den Rechtsverletzungen an der bosnisch-kroatischen Grenze wurde ein unabhängiger Kontrollmechanismus zur Wahrung der Menschenrechte lediglich aufgrund des steigenden Drucks von außen aufgebaut. Dafür hat Kroatien bereits 2018 rund 300.000 Euro aus dem EU-Haushalt bekommen. Doch es gelangt nur ein Bruchteil davon tatsächlich an unabhängige Organisationen. Und trotz systematischer Rechtsbrüche ist noch kein Vertragsverletzungsgefahren gegen die kroatische Regierung eingeleitet worden. Ganz im Gegenteil hat sich die EU-Innenkommissarin Ylva Johannson in einem Brief an das EU-Parlament im Juli diesen Jahres erneut den schellen Beitritt Kroatiens in den Schengenraum befürwortet.

Kroatiens Eintritt nicht nur in die EU, sondern potenziell auch in den Schengenraum steht offensichtlich für die EU in keinem Widerspruch zu Werten wie Menschenrechte, Aufklärung und Gerechtigkeit, mit denen die Union sich oft selbst schmückt. Praktisch scheint eine Politik der Grenzgewalt und Militarisierung des Grenzregimes für einen EU-Beitritt gewichtiger zu sein. Während innerhalb der EU vielleicht manche noch dem moralischen Spagat von „Rechtsordnung“, „Hilfe“ und „Einzelfällen“ glauben, spricht die Realität an der Außengrenze eine ganz andere Sprache.

Gewaltsamer Alltag an den Grenzen der EU

Als wir an einem Abend in Velika Kladuša mit dem kleinen, zerbeulten Seat eine weitere Ladung Feuerholz ausliefern, besteigen ein paar Kinder unser geparktes Auto und klettern auf die Sitze. Sie können gerade so über das Lenkrad schauen, über welches sie mit schnellen Bewegungen ihre Hände gleiten lassen. Sie erinnern mich an meine eigene Kindheit, in der ich gerne „Autofahren“ gespielt habe. Auf meine Frage, wohin sie fahren, kam die euphorische Antwort: „Germany!“. Doch dann springt plötzlich ein anderes Kind von außen gegen die geschlossene Fahrerseite, reißt die Tür auf und schreit: „Stop! Policia!“. Die Kinder spielen nicht wie ich damals „Räuber und Gendarm“, sondern „PoM und Polizist“, denn für sie ist die Verfolgung durch die Polizei und die Behandlung als wären sie Verbrecher:innen Teil des Alltags.

An meinem letzten Abend in Bosnien werde ich nochmal als Rettungssanitäterin in eines der ansonsten leerstehenden Häuser gerufen, die von PoM bewohnt werden. Amir,[1] Vater eines Sohnes bringt mich zu seiner schwangeren Frau. Die sitzt in dem fensterlosen Flur auf dem Boden an die Wand gelehnt und hält sich den Bauch. Nadia ist vierundzwanzig – zwei Jahre älter als ich – und im dritten Monat schwanger. Am Morgen sind sie nach zweiundzwanzig Stunden Laufen von einem weiteren versuchten Grenzübertritt zurückgekehrt. Sie blutet seit fünf Stunden unaufhörlich stark vaginal. Sie sagt, sie hat große Schmerzen und kann nicht mehr laufen. Ich soll ihr helfen, doch alles was uns bleibt, ist die bosnischen Nachbar:innen zu fragen, ob sie die Polizei und einen Rettungswagen rufen können. Wenn Geflüchtete anrufen, ist in der Regel nicht mit Hilfe zu rechnen. Die Nachbar:innen helfen uns, die Polizei kommt allerdings genauso wenig, wie der Rettungswagen. Nach über einer Stunde Warten, entscheidet sich die junge Familie, mit dem letzten Bargeld ein Taxi zu nehmen. An diesem Abend verliert Nadia ihr ungeborenes Kind. Es hat das EU-Grenzregime nicht überlebt.

Dieser Text wurde von Anna-Lena Schulz gemeinsam mit dem Blindspots-Team verfasst.
Foto: Lyoz Bandie


[1] Alle Namen zum eigenen Schutz geändert