#solidaritywithoutborders

Begrenzte Solidarität

Gerade zeigt sich, was in der Unterstützung von Schutzsuchenden seitens der EU alles möglich ist, wenn der politische Wille und das Verantwortungsgefühl da sind.

Die EU ist auf eine Fluchtbewegung aus der Ukraine vorbereitet, die Menschen sind willkommen, so die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Es gibt Notfallpläne, welche gemeinsam mit den östlichen EU-Ländern erarbeitet wurden, um die Menschen an den Außengrenzen aufzunehmen und unterzubringen. Rumänien, Polen und die Slowakei beispielsweise richten bereits Aufnahmezentren in den Grenzregionen ein. Es werden Fluchtkorridore ermöglicht. Auch möchte die EU Menschen unterstützen, die innerhalb der Ukraine fliehen müssen.Die Deutsche Bahn setzt in Kooperation mit Polen Sonderzüge ein, die Schutzsuchende aus der Ukraine kostenlos aus Polen nach Deutschland befördern.

Die plötzliche Handlungsbereitschaft der Europäischen Union, die selbstverständliche Solidarität und die offensichtlich empfundene Verantwortung für ukrainische Schutzsuchende wirft Fragen über das Grenzregime der EU auf.

Die aktuelle Solidarität und praktische Unterstützung ukrainischer Schutzsuchender ist angesichts der aktuellen Notlage richtig und wichtig. Dabei dürfen wir aber nicht aus dem Blick verlieren, wie stark der Kontrast zu dem europäischen Grenzregime ist, welches Menschen seit Jahren an den Außengrenzen systematisch das Recht auf Asyl verwehrt und tausenden Menschen das Leben kostet. Mit dem Verweis auf die Völker- und Menschenrechte verurteilt die EU den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – zu Recht. Gleichzeitig finden aber von Seiten der EU weiterhin täglich Menschenrechtsverletzungen in Form von Grenzgewalt und illegalen, gewaltvollen Pushbacks an europäischen Außengrenzen statt.

Wie kommt es, dass sich die EU für den Schutz Kriegsflüchtender aus der Ukraine verantwortlich fühlt, jedoch Kriegsflüchtenden aus anderen Ländern das Recht auf Asyl jahrelang verwehrt?

Ist es die geographische Nähe? Ist es, weil sich die EU für den Kriegsangriff auf die Ukraine im Kontext des Ost-West-Konflikts (mit-)verantwortlich fühlt? Oder ist es, weil Ukrainer:innen als Weiße* Europäer:innen wahrgenommen und somit als Teil des „Eigenen“ und daher als schützenswerter betrachtet werden?

Verschiedene mediale Rhetoriken und rassistische Formulierungen  der letzten Tage über Kriegsflüchtende aus der Ukraine zeigen, wie Menschen aufgrund rassistischer Merkmale als nicht zu Europa zugehörig konstruiert werden (= rassistisches Othering). Gleichzeitig werden in den öffentlichen und sozialen Medien jedoch auch Stimmen lauter, die skandalisieren, wie BIPoC** die Ausreise aus der Ukraine, bzw. die Einreise in die EU über Polen verwehrt wird. Unter dem Hashtag #AfricansInUkraine ist beispielsweise zu lesen, wie BIPoC an der polnisch-ukrainischen Grenze zurückgewiesen werden:

Deswegen thematisieren wir Rassismus überall. Er schlägt [uns] überall entgegen, egal wie vulnerabel wir eh schon sind. Stell dir vor du fliehst vor Krieg und während andere an dir vorbeiziehen, wirst du nicht über die Grenze gelassen,weil du Schwarz bist. Wtf”  -Twitterpost von @_didilulu

Hier zeigt sich nicht nur wie BIPoC weiterhin als nicht zu Europa zugehörig, sondern auch als weniger schützenswert konstruiert werden. Des Weiteren verdeutlicht sich wie rassistisch die europäische Asylpolitik ist.

Diese Ungleichbehandlung wird besonders deutlich, wenn die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze betrachtet wird. Dort wurde Asylsuchenden (hauptsächlich Menschen aus Afghanistan und Kurd*innen aus Irak) insbesondere im Winter 2021/2022 der Grenzübertritt und Schutz in der EU verwehrt und sie mussten die tödliche Härte des europäischen Grenzregimes erfahren. Diese Menschen wurden und werden allein gelassen und erfrieren an der polnischen Grenze. Es werden dort Aufnahmeinrichtungen für Kriegsflüchtende aus der Ukraine eingerichtet, wo noch vor wenigen Wochen schnelle Abschiebungen für Kriegsflüchtende aus anderen Ländern gefordert wurden.

Es wird deutlich, wie Unterschiede zwischen ukrainischen Flüchtenden im Vergleich zu Flüchtenden aus bspw. Afghanistan oder dem Irak gemacht werden.

Es geht hierbei nicht darum, unterschiedliche Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir dürfen jedoch nicht ignorant gegenüber Rassismus in Solidaritäsbekundungen oder gegenüber der Selektivität unserer Anteilnahme und praktischer Unterstützung sein.

Bei den schleppenden Evakuierungen aus Afghanistan im Sommer 2021 beispielsweise fand nur eine selektive Aufnahme statt, die Bereitschaft der Aufnahme von Flüchtenden in der europäischen Bevölkerung war nur mäßig. Bis kurz vor der Übernahme der Taliban wurde sogar regelmäßig darüber diskutiert, Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen, um die Zahl der Asylbewerbenden in Deutschland zu reduzieren.

Es fehlt scheinbar sowohl gesellschaftlich als auch seitens der EU das Gefühl der Verantwortung für die Menschen, die aufgrund von westlichen militärischen Interventionen und Folgen kolonialer und imperialer Grenzziehungen das Land, in dem sie geboren wurden, verlassen müssen.

Der Ungleichbehandlung von Schutzsuchenden seitens der EU, liegt eine grundlegende (koloniale) Ungleichheit in der Bewegungsfreiheit von Menschen zugrunde.

Während die meisten EU Bürger:innen frei entscheiden können, wo auf der Welt sie leben und arbeiten wollen, werden Menschen aus dem Globalen Süden für dasselbe Anliegen kriminalisiert. Oft wird medial Verständnis gegenüber Schutzsuchenden aufgebracht, die aus akuten Kriegsgebieten fliehen. Es fehlt jedoch an Solidarität und Verantwortung gegenüber Menschen, die beispielsweise aus ökonomischen Gründen gezwungen sind, ihr Herkunftsland verlassen. Auch hier zeigt sich das fehlende Verantwortungsgefühl der EU für die Kontinuität von Ausbeutung durch Kolonialismus und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, auf denen der europäische Wohlstand aufbaut, und dessen Folgen Menschen aus dem Globalen Süden auf den Weg in den Globalen Norden treiben.

Solidarität ohne Grenzen

Es ist richtig, dass die EU schnell und selbstverständlich die europäischen Grenzen für Kriegsflüchtende aus der Ukraine öffnet. Wir unterstützen alle Handlungen, die es Menschen aus der Ukraine ermöglichen, sichere Orte zu erreichen. Es wirft aber auch Fragen auf. Fragen, die sich darum drehen, wieso für manche Menschen Fluchtkorridore geschaffen werden, während andere Menschen seit Monaten oder Jahren an den europäischen Außengrenzen feststecken. Die europäische Union vertritt seit Jahrzehnten eine Abwehrpolitik durch repressive Grenzpraktiken, die nun selektiv aufgehoben wird. Es darf nicht sein, dass die EU Menschen systematisch und auf illegale und gewaltvolle Art und Weise pushbacked, wenn sie vor Krieg und Verfolgung flüchten und versuchen auf europäischem Boden das Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen. Die EU muss endlich Verantwortung übernehmen, für die Folgen kolonialer und imperialer Grenzziehungen des europäischen Kolonialismus und des kapitalistischen Wirtschaftssystems, welches auf Rassismus und Ausbeutung des Globalen Südens aufbaut.

Wir fordern, dass die Solidarität für Kriegsflüchtende aus der Ukraine auch die mitdenken muss, die seit langem von den Grenzen eingeschränkt werden. Jede:r hat gleichermaßen das Recht darauf, an einem sicheren Ort zu leben. Jede:r hat das Recht auf Bewegungsfreiheit. Solidarität darf nicht an Nationalitäten oder vermeintlicher Herkunft gemessen werden.

*Die Begriffe Schwarz und Weiß beziehen sich nicht auf Hautfarben, sondern auf soziale und politische Konstruktionen. Mit Weiß sein ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint.

**Der Begriff BIPoC ist eine Abkürzung für Black, Indigenous and People of Colour. Die deutsche Übersetzung lautet Schwarze, Indigene und People of Colour. Es handelt sich dabei um eine politische und internationale Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrungen.

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