Der Krieg in der Ukraine wütet weiter und die Menschen fliehen aus dem Land. Wir sind deswegen sehr bestrebt, die Bedürfnisse und Herausforderungen an den Grenzübergängen zu verstehen. Wir erachten dies als notwendig, nicht nur für Menschen, die direkt aus der Ukraine fliehen, sondern für alle Menschen, die auf der Flucht sind. Wir sehen unsere Flexibilität, unsere praktische Mentalität und unseren netzwerkbasierten Arbeitsansatz als unsere größten Stärken an. Daher ist eine kleine Gruppe von Blindspots-Mitgliedern am 06. März aufgebrochen, um entlang der ukrainischen Grenzen mit lokalen Gruppen in Kontakt zu treten, Informationen aus erster Hand zu sammeln und herauszufinden, welche Unterstützung benötigt wird. Auf der Grundlage dieser Recherchen starteten wir das neue Projekt „Exit Bus“, zur Unterstützung sämtlicher Menschen, die an der ukrainisch-slowakischen Grenze über die EU-Grenzen fliehen. Mit den neuen Serien „Memos from Borders“ und „Reports along Borders“ wollen wir unsere Erkenntnisse weitergeben und der Öffentlichkeit Einsicht in die Situation vor Ort geben.
Warschau
Unser erster Stop war der „Dworzec autobusowy Warszawa Centralna“, der Hauptbahnhof in Warschau. Er ist einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte für Flüchtende in Polen. Dort versorgt eine spontane Vereinigung polnischer Zivilist:innen die Flüchtenden mit Spenden und Informationen. Für Menschen ohne ukrainischen Pass hat die Grupa Granica einen Informationsstand eingerichtet und sucht nach Kontakten in deutschen Städten, in die sie Busse mit BIPoC schicken kann.
Eine polnische Zivilistin, die als Freiwillige am Bahnhof arbeitet, berichtet von vielen Menschen, die Sachspenden bringen und ihre Solidarität zeigen. Viele der Freiwilligen kommen und bleiben oft länger als geplant. Ihrer Meinung nach fühlen sich die Freiwilligen besser, wenn sie den Flüchtenden helfen können und etwas beitragen können, anstatt passiv zuzusehen, was in der Ukraine passiert.
Grenzübergang Hrebenne
An unserer nächsten Station, dem kleinen Grenzübergang in Hrebenne, kommen ständig Busse mit überwiegend Frauen und Kindern aus der Ukraine an. Hier werden sie von polnischen Freiwilligen und kleinen Initiativen mit Essen, heißen Getränken und dem Nötigsten versorgt. Das Militär sorgt für eine Grundausstattung mit Zelten, Feuertonnen und Holz. Die Verteilung der Spenden ist ungleich, was dazu führt, dass an den polnischen Hotspots (z.B. Media) viele Spenden zur Verfügung stehen, an den kleineren Grenzübergängen wie Hrebenne jedoch nicht.
Grenzübergang Medyka
Medyka ist der größte Grenzübergang zur Ukraine im Süden Polens, nicht weit von Krakau entfernt. Das Grenzgebiet ist nur für Organisationen und die Presse zugänglich. Die IOM (Internationale Organisation für Migration) und viele polnische Freiwillige haben ein Transferlager eingerichtet. Hier werden zahlreiche Ankömmlinge aufgenommen, mit dem Nötigsten versorgt und nach Krakau und Warschau transportiert. Aufgrund der Medienaufmerksamkeit werden viele Spenden abgegeben. Medyka verfügt – im Gegensatz zu kleinen Grenzübergängen wie Hrebenne – über eine gut funktionierende Struktur, die von großen Organisationen und lokalen Vereinen weiter ausgebaut wird. Da der von Russland eingerichtete humanitäre Korridor durch Lviv und Medyka führt, wird in diesem Gebiet mit steigenden Zahlen von Menschen gerechnet, solange die Korridore in Betrieb bleiben. Trotz der etablierten Organisation vor Ort wird das Gebiet aufgrund der gemeldeten Aggressionen und der ungleichen Behandlung von nicht-weißen Personen insbesondere für Menschen ohne ukrainischen Pass und BIPoC als unsicher angesehen.
Bahnhof Przemyśl
Als größte Stadt im Grenzgebiet ist Przemyśl zu einem Umschlagplatz geworden. Menschen, die an anderen Grenzübergängen eingereist sind, werden mit Bussen hierher gebracht und fahren mit Zügen weiter nach Westen. Es wurden Unterstände eingerichtet, an denen die Menschen Zuflucht vor der Kälte finden und die Nächte verbringen können. Ein großes Polizeiaufgebot und das polnische Militär überwachen das Gebiet. Die örtliche Freiwillige Feuerwehr und kleine Vereine übernehmen die Versorgung.
Kroscienko, der südlichste Grenzübergang Polens
In dem kleinen Dorf Kroscienko im Süden Polens haben verschiedene Organisationen, darunter Caritas und Malteser, sowie freiwillige Feuerwehrleute und Polizist:innen eine funktionierende Struktur aufgebaut. Über diesen Grenzübergang kommen täglich 2.000 flüchtende Ukrainer:innen an. Spenden wie Grundnahrungsmittel, Kleidung und medizinische Versorgung werden in einer alten Schule 9 km von der Grenze entfernt sortiert und dann zum Grenzübergang transportiert.
Militärische Präsenz
In Hrebenne beobachteten wir Männer, die zu Fuß und in Bussen zurück in die Ukraine fahren, um zu kämpfen. Wir sprachen auch mit einer Gruppe internationaler Freiwilliger, die sich weiter südlich an der Grenze zum Kampf für die ukrainische Armee freiwillig gemeldet haben.
Die Motivation für Solidarität, Aktivismus oder Dienst von vielen Freiwilligen ist die Empathie mit der ukrainischen Bevölkerung. Einige, z. B. aus den baltischen Staaten oder Georgien, erzählen uns von ihrer Sorge, dass ihre Länder ebenfalls von Russland angegriffen werden könnten. Ihre Länder haben eine ähnliche Geschichte und daher wird die russische Invasion in der Ukraine als Angriff auf eine friedliche Ordnung angesehen, die man gemeinsam verteidigen sollte.
Zwei Freiwillige berichteten über den Mangel an Informationen über ihren bevorstehenden Dienst. Sie erzählten von ihrer Angst, länger als vorgesehen in der ukrainischen Armee zu bleiben, und von dem Gerücht, dass ihnen sogar die Pässe abgenommen werden könnten. Offenbar ist die völkerrechtliche Situation für internationale Soldat:innen in der ukrainischen Armee noch nicht vollständig geklärt.
Privater Transport und Evakuierung von Personen auf der Durchreise
An allen Grenzübergängen gibt es Sprinter und Transporter aus Deutschland und anderen EU-Ländern, die Fahrten anbieten und Unterkünfte in ihren Städten vermitteln. Auch bieten z.B. in Kroscienko Freiwillige private Taxifahrten zu Aufnahmestellen oder Bahnhöfen an, um die Grenzübergänge zu beschleunigen. So wünschenswert dies auch ist, der Menschenhandel wird zu einem Problem. Vor allem nachts, wenn die Essensausgabe pausiert, treiben sich dort Menschen herum, die Frauen und Kinder zwingen, mit ihnen zu gehen. Es wird deshalb dringend empfohlen, sich bei der Suche nach einem Transport bei der örtlichen Koordinierungsstelle zu melden.
Organisation und Struktur an der Grenze
Nach einer Woche unterwegs waren wir immer noch irritiert von dem verherrlichenden Verhalten gegenüber großen Organisationen wie der IOM (International Office for Migration). Freiwillige Helfer:innen aus der ganzen Welt kamen und jubelten über die anhaltende Solidarität. Am Grenzübergang Medyka kam ein Pianist aus Spanien und spielte für die Menschen auf einem großen mobilen Klavier. Während der Alltag der NGOs in anderen Grenzgebieten wie der bosnisch-kroatischen Grenze von regelmäßigen Personenkontrollen, der Angst vor Repressionen und sogar Verhaftungen geprägt ist, verhält sich die Grenzpolizei hier freundlich und zuvorkommend. Die Medienpräsenz sowie die Behandlung und das Handeln der Freiwilligen überraschen uns – vor allem, wenn man Szenen von anderen Grenzen gewohnt ist, wo Pushbacks, Repression und Kriminalisierung von Migrant:innen, und mit ihnen solidarischen Menschen, zum Tagesgeschäft gehören. Die IOM ist an dieser Kriminalisierung maßgeblich beteiligt, während jetzt Fluchtbewegungen aus der Ukraine völlig anders bewertet werden.
Neues Blindspots-Projekt an der slowakischen Grenze: „Exit Bus – safe passage for all“
In Ubl’a an der slowakischen Grenze ist der Bedarf an Unterstützung größer als an den Grenzen in Polen, wo die Aufmerksamkeit bereits recht groß ist. Die Gemeinde Ubl’a hat auf einem Platz im Dorf Zelte aufgestellt, um die Ankommenden mit Gulasch und Borschtsch, Kaffee und SIM-Karten zu versorgen. Eine erste Verteilung an Privathaushalte wird ebenfalls von hier aus organisiert. Ein Team aus ukrainischen Fahrer:innen fährt regelmäßig mit Waren in verschiedene Städte und evakuiert Flüchtende über Ubl’a.
Viele Menschen bleiben in der Ukraine, um mitzuhelfen und ein Versorgungssystem für die abgeschnittenen Orte in den Karpaten und im Hinterland aufzubauen.
Die Berge bieten Schutz für Menschen, die aus den verwüsteten Gebieten in der Ost- und Zentralukraine geflohen sind. Diejenigen, die keine Kontakte in die Westukraine oder in die EU-Staaten haben, werden dort in Notlagern in Schulen, Wohnheimen und Heimen untergebracht. Diese haben derzeit keinen Zugang zu humanitären Gütern und es fehlt an Lagerräumen. Wir sind in die Ukraine gereist und haben Orte besucht, die von Spendenbussen versorgt werden müssen, und haben uns mit Menschen getroffen, welche die Exit-Busse fahren werden. Wir werden sie mit der Bereitstellung von Transportfahrzeugen und dem Aufbau einer Struktur für die Evakuierungs- und Spendenlogistik unterstützen.
Zu diesem Zweck werden wir kleine Lager in der Ukraine einrichten, damit die Busse nicht jeden Tag zum Beladen in die Slowakei zurückkehren müssen. Außerdem werden wir dafür sorgen, dass die Spendenlieferungen aus Deutschland (oder anderen Ländern) im Zentrallager in Ubl’a organisiert werden. Anhand von Bedarfslisten können wir dann gezielt bestimmte Orte in der Ukraine mit Spenden versorgen.
Bedarf und Spenden
Im Allgemeinen mangelt es an medizinischer Versorgung und an Medikamenten für die erste Hilfe. Auch Hygieneartikel werden dringend gebraucht. An den kleineren Grenzübergängen wie Hrebenne und Kroscienko in Polen wird Dosen-, Trocken- und Babynahrung benötigt. An Bahnhöfen und kleineren Grenzübergängen werden einige warme Kleidungsstücke und Kinderkleidung benötigt.
Private Taxifahrten, insbesondere für BIPoC, werden an den Bahnhöfen und am Hotspot Medyka in Polen gesucht. Oftmals sind die Tankstellen leer und es wird empfohlen, Treibstoff mitzubringen. Jegliche Einreise in die Ukraine ist ausschließlich für den Gütertransport und nur mit Bestätigung der Organisationen erlaubt.
Für unser neues Projekt in Ubl’a, Slowakei, benötigt es grundlegende Unterstützung. Wir suchen Menschen, die uns in der Logistik unterstützen und langfristig beim Aufbau der Projektstruktur helfen können. Auch Spenden von Fahrzeugen und großen Transporten mit Non-Food-Gütern (medizinische Hilfsgüter etc.) sowie Trocken- und Konservenlebensmitteln sind willkommen.
Wir empfehlen, auf jeden Fall Kontakt zu lokalen Organisationen aufzunehmen, bevor ihr Sachspenden spendet oder selbst eine Reise antretet. Wir können auf Anfrage Kontakte und Netzwerke vermitteln. Kontaktiert uns gerne: info@blindspots.support