Im Norden Serbiens sind illegalisierte Migrant:innen der doppelten Gewalt von Grenzpolizei und Schmuggler:innen ausgesetzt. Ein Lagebericht.
Mehr und mehr Schutzsuchende unter anderem aus Syrien, Afghanistan und Burundi versuchen über den Norden Serbiens die EU zu erreichen. Mit Kroatien, Ungarn und Rumänien grenzt Serbien im Norden gleich an drei EU-Mitgliedstaaten, was die Region in den letzten Jahren zu einem Hotspot der Migration in die EU gemacht hat. Die sogenannte westliche Balkanroute, die entweder über Serbien oder Bosnien und Herzegowina in die EU führt, ist eine der meistgenutzten Fluchtrouten in die EU. In Serbien ist die Anzahl der People on the Move (PoM) in den letzten Monaten stark angestiegen. Aktivist:innen vor Ort berichten, dass im Vergleich zum letzten Jahr sich dreimal so viele PoM in der Region aufhalten. Der Anstieg ist unter anderem auf ein neues Visa-Abkommen zurückzuführen. In den vergangenen Monaten schloss Serbien Visa-Abkommen mit Staaten wie beispielsweise Burundi ab, als diplomatischer Dank dafür, dass diese Staaten den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkennen. Das Abkommen konnten einige Menschen nutzen, um legal nach Serbien einzureisen und sich von dort aus auf den Weg in die EU zu machen. Als Teil ihrer rassistischen Abschottungspolitik hat die EU nun Druck auf Serbien ausgeübt, diese visafreie Einreise wieder zu beenden.
Miserable Zustände in Squats
Viele der PoM im Norden Serbiens leben in sogenannten Squats in Grenznähe. Der Anstieg der durchreisenden PoM führt dazu, dass die Squats teilweise überfüllt sind. Bis zu 600 Menschen leben in einem besetzten Gebäudekomplex, beziehungsweise in Zelten darum herum. Meist schlafen Menschen auf improvisierten Betten auf engsten Raum. Privatsphäre oder Ruhe gibt es kaum. Die Squats sind meist alte, baufällige Ruinen, die wenig Schutz vor Wind und Kälte bieten. Fließendes Wasser und Elektrizität gibt es in den meisten Squats nicht. Aufgrund mangelnder Hygiene- und Müllinfrastruktur leiden viele Menschen an Infektionen. Unzureichende Versorgung mit Kleidung und Nahrungsmitteln führen zu Mangelernährung und erhöhen das Erkrankungsrisiko. Insbesondere im Winter können die Witterungsbedingungen für PoM, die in verschmutzen Ruinen leben müssen, lebensbedrohlich sein.
Folgen der Illegalisierung in Serbien
Eine Registrierung und damit ein Entkommen aus der Illegalisierung, ist in Serbien für PoM kaum möglich. Es gibt kein funktionierendes Asylsystem berichtet eine lokale Aktivistin. Serbien sieht sich als Transit- und nicht als Zielland der Migrationsbewegungen und damit nicht in der Verantwortung funktionale Strukturen für illegalisierte Migrant:innen zu schaffen. Die meisten PoM möchten tatsächlich nicht in Serbien bleiben – ihr Ziel ist die EU. Die Tatsache, dass sie in Serbien in die Illegalität gezwungen werden und dieser nicht entkommen können, hat trotzdem negative Konsequenzen. PoM sind von der öffentlichen Infrastruktur größtenteils abgeschnitten. Nur schwer und mit der Unterstützung von Supporter:innen – überwiegend mit Pässen aus dem „Globalen Norden – werden sie in lokalen, öffentlichen Krankenhäusern behandelt – meist nur unzureichend. Viele Supermärkte dürfen PoM nicht betreten, in anderen werden sie erst nach allen einheimischen Kund:innen bedient. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer Illegalisierung von staatlichen Schutzmöglichkeiten abgeschnitten. Wiederfährt ihnen Gewalt oder anderweitiges Unrecht, können sie nicht auf die Unterstützung staatlicher Behörden zurückgreifen. Als illegalisierte Personen haben sie keine Rechte in Serbien.
Illegalisierung treibt Menschen in ausbeuterische Strukturen
Der Ausschluss von jeglicher staatlicher Infrastruktur bedeutet auch, dass viele PoM schutzlos gegenüber ausbeuterischen Strukturen sind. Gewaltvolle Schmuggler-Strukturen haben aufgrund der Abhängigkeit der Menschen ein leichtes Spiel. Da viele Lebensmittelgeschäfte PoM nicht bedienen und einige der Squats aufgrund der strategisch wichtigen Grenznähe außerhalb von städtischer Infrastruktur liegen, können ausbeuterische Gruppen Lebensmittel zu horrenden Preisen innerhalb der Squat-Strukturen verkaufen. Durch Gewaltandrohung und Einschüchterung, auch gegenüber solidarischen Support-Strukturen, versuchen sie die Monopolstellung über lebenswichtige Ressourcen zu verteidigen.
Auch der Grenzübertrittsversuch nach Ungarn wird streng von mitunter sehr gewaltvollen Schmuggler-Strukturen kontrolliert. Wer den Grenzzaun überqueren will, muss laut PoM circa bis zu 5000€ an die Schmuggler:innen zahlen, die Leitern zur Verfügung stellen und Fluchtrouten nach Bezahlung organisieren. Ein Schutzsuchender aus Afghanistan erzählte, dass er gar nicht weiß, wie er mit seiner Familie über die Grenze kommt, aber ein „Bekannter” das organisiert. Lokale Supporter:innen berichten, dass verschiedene Schmuggel-Netzwerke sich die Grenzzaunabschnitte aufgeteilt haben, die sie dann streng kontrollieren. Wer nicht zahlen will, wird verprügelt und/oder anderweitig eingeschüchtert, bis er:sie zahlt. Wer nicht zahlen kann, muss oft Zwangsarbeit verrichten und sich so den Grenzübertritt erarbeiten. Alleinreisende Frauen* sind besonders vulnerabel, erklärt eine serbische Aktivistin. Häufig werden sie von Schmuggler-Strukturen nicht in den Squats, sondern in Hostels untergebracht, wo sie ihren Unterhalt mit Zwangsprostitution erarbeiten müssen. Die Illegalisierung durch den serbischen Staat führt dazu, dass die Frauen* schutz- und wehrlos gemacht werden. Sie wollen um jeden Preis die EU erreichen und in ihrer Verzweiflung sehen sie keinen anderen Weg als die Ausbeutung über sich ergehen zu lassen, bis die Unterdrücker/ Schmuggler sie über die Grenze lassen.
EU-Migrationspolitik: Zwangsprostitution statt sichere Fluchtrouten
Die Illegalisierung durch den serbischen Staat ist ein Grund für die prekäre Situation der PoM. Die Abschottungspolitik der EU ist ein weiterer. Gäbe es sichere Fluchtrouten, zum Beispiel in Form von legalen Fluchtkorridoren oder humanitären Visa für Schutzsuchende, würden sie nicht in die Fänge von ausbeuterischen Strukturen geraten, die sich die Illegalisierung und die unmenschliche Grenzbewachung der EU zu Nutzen machen. Leider ist aufgrund der rechtspopulistischen und konservativen Übermacht in vielen EU-Mitgliedstaaten, sowie der Union selbst, nicht davon auszugehen, dass die allgemeine Migrationspolitik Europas sich in absehbarer Zukunft verbessern wird. Rassismus, Neokolonialismus und kapitalistische Ausbeutung werden aller Voraussicht nach auch in Zukunft Leitmotive der EU-Migrationspolitik bleiben. Selbst das Ende von menschenrechtswidrigen Grenzschutzmethoden ist nicht absehbar. Sogenannte Pushbacks sind ein normalisierter Teil des EU-Grenzschutzmechanismus geworden. Gewalt von Seiten europäischer Beamt:innen gegenüber Schutzsuchenden ist keine Seltenheit, sondern oftmals Normalität an den EU-Außengrenzen. Zäune und Mauern werden nicht, wie oft selbsverherrlichend von der EU propagiert, eingerissen – sondern gebaut. All diese Mechanismen spielen den ausbeuterischen Strukturen im Norden Serbiens in die Hände. Gäbe es keinen Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze zu überwinden, könnten keine Schmuggler-Strukturen diesen überwachen und so über den Grenzübertritt herrschen. Müssten Schutzsuchende keine Angst vor der Gewalt und Erniedrigung durch EU-Beamte haben, so würden sie nicht in die „Schutz” und Geleit versprechenden Hände von Ausbeutenden getrieben. Die Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Einschüchterungen und Gewaltexzesse in Nordserbien sind Konsequenzen der EU-Migrationspolitik und ihrer rechtswidrigen Grenzschutzmethoden.